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Bücher

Das Tal der blinden Engel

ISBN 978-3-85252-110-7

Januar 2010 bei Verlag Bibliothek der Provinz

Das Tal der blinden Engel

Lina lebt mit ihren Eltern in einem kleinen Tal in den Bergen. Die Männer verdienen ihr Geld mit dem Verkauf von Heiligenfiguren, vor allem mit geschnitzten Engeln. Eine scheinbare Idylle - und doch verbirgt sich in dem kleinen Tal ein Geheimnis, das niemand aussprechen mag, weil sich das Schreckliche nicht in Worte fassen lässt…

Leseprobe des ersten Kapitels

Tränen sind die stumme Sprache des Kummers

Sorgfältig schneidet Lina ein silbernes Dreieck aus dem Rest Schokoladenpapier, das liebevoll geglättet neben ihr liegt. Sie bestreicht es mit Klebstoff und drückt es auf die Spitze des Großen Feldbergs. Fertig! Zufrieden betrachtet sie ihr Bild. Auch der Kleine Feldberg und die Hexenwand haben eine silberne Spitze bekommen, genauso wie alle anderen Berge, die das kleine Tal, in dem Lina lebt, wie eine undurchdringliche Mauer umschließen.

Wenn die Sonne auf ihr Bild scheint, glitzern die Berge, so als läge wirklich dicker weißer Schnee auf ihnen. Es ist ein gutes Bild geworden. Der Vater wird zufrieden sein. Sie fängt die letzten Sonnenstrahlen ein und lächelt den schimmernden Bergen zu.

Dann geht die Sonne unter.

Lina holt tief Luft, nimmt einen spitzen Bleistift aus ihrer Mappe und zeichnet mit flinken Bewegungen ein Mädchen auf die höchste Bergspitze. Es sitzt mit angezogenen Beinen auf dem silbernen Schokoladenpapier, die Arme fest um die Knie gepresst. Der Kopf des Mädchens ist nach oben gedreht.

Lina zeichnet immer schneller. Sie kennt jeden Strich, den sie machen muss, auswendig. Das Radiergummi, das sie beim Zeichnen der Berge häufig benutzt hat, liegt unberührt neben ihr.

Die dunklen Schatten werden immer länger.

Lina friert, obwohl sie ihre dicke Winterjacke angezogen hat. Mit Fingern, die vor Kälte ganz klamm sind, malt Lina zum Abschluss rechts unten ihr Kennzeichen auf das Bild:

G 19, 6–8.

Winzig klein das G und winzig die Zahlen, mit einer Lupe nur zu entziffern. Es ist jedes Mal ein Risiko und die Aufregung in Linas Bauch vollführt immer einen wilden Tanz, wenn sie ein fertiges Bild zu Hause bei ihrem Vater abliefert, der es aber, ohne einen Blick darauf zu werfen, in die Mappe zu den anderen Bildern legt. Hauptsache, die Bilder verkaufen sich weiterhin so gut wie bisher.

„Du musst deinen Namen darunter schreiben, groß und deutlich!“ hat die Mutter anfangs gesagt. „Falls du mal berühmt wirst. Die Leute müssen doch wissen, wie du heißt.“

„Das ist mein Name“, hat Lina geantwortet.

„G 19, 6-8! Was soll das sein? Hört sich an wie ein Raumschiff!“ hat ihr großer Bruder sie ausgelacht. „G 19, 6-8! Bitte kommen!“

Nur ihre große Schwester hat sie mit großen, ängstlichen Augen angesehen. „Du bist verrückt, Lina!“ hat sie leise geflüstert. „Sie werden dich umbringen!“

Lina ist froh, dass ihre Schwester Bescheid weiß, denn wenn es tatsächlich herauskommt und ihr etwas passiert, muss einer die Wahrheit kennen. Aber sie weiß auch, dass ihre Schwester die Wahrheit niemals weiter sagen wird. Das hat sie, Lina, ja auch nicht geschafft.

Es gibt keine Worte für das Unaussprechliche. Darum muss Lina die Wahrheit in ihren Bildern verstecken. Und so gibt es nur die Bilder und die leise Hoffnung, dass irgendwann irgendwo irgendjemand die Wahrheit in ihren Bildern findet.

Der Mond übernimmt die Herrschaft im Tal, auch wenn er zurzeit nicht größer ist als die Sichel, die ihr Vater zum Grasschneiden benutzt.

Lina packt ihre Malsachen ein und macht sich auf den Heimweg. Früher hat sie große Angst vor der Dunkelheit gehabt. Aber das war in einem anderen Leben, als sie unter ihre Bilder noch Lina schrieb, das war in einer Zeit, bevor sie gelernt hat, dass man vor vielen Dingen  Angst haben kann. Die Dunkelheit gehört nicht dazu.

Eine Wolke verdeckt den Mond, als Lina an ihrem Elternhaus ankommt und leise durch die Hintertür hineinschlüpft.